Psychotherapeutische Praxis  Ralph Dengel
dengel@praxis-dengel.de

…So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen,
So sagten schon Sibyllen, so Propheten;
Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.

Goethe

 

Neurobiologische Grundlagen – „Geprägte Form, die lebend sich entwickelt“

 

Kippbilder verdeutlichen, was schon Kant beschrieben hat, als er darlegte, dass wir nicht die Wirklichkeit „an sich“, also jene von uns unabhängige Welt mit ihren physikalischen und chemischen Gesetzmäßigkeiten erfassen können, sondern nur das, was gefiltert durch unsere Erkenntnisstrukturen zu unserer subjektiven Erfahrungswelt wird. So entsteht mit Kant die Idee der Projektion: Betrachten wir nachts den Sternenhimmel, setzen sich die einzelnen leuchtenden Punkte (Sterne, die durch unendliche Weiten voneinander getrennt sind) in unserer subjektiven Wahrnehmung zu einer bedeutungsvollen Figur zusammen: wir projizieren z.B. den „großen Bären“ an den Himmel. Unsere Sinnesorgane stellen dabei die Brücke zwischen der äußeren und unserer inneren Realität dar. Sie übersetzen die physikalischen und chemischen Umweltreize in die Sprache des Gehirns, die sich in der Form von elektrischen Erregungsmustern von neuronalen Zellverbänden artikuliert.

 

Das Gehirn besteht aus Milliarden von miteinander verbundenen Neuronen (Nervenzellen). Ein Sinnesreiz bewirkt ein aktuelles neuronales Muster: d.h. ein bestimmter Verbund von Nervenzellen (eine neuronale Gruppe) ist plötzlich aktiviert. Als Metapher für diesen Vorgang kann man sich eine Fußballmannschaft vorstellen, deren Spieler (die Neuronen) sich vor Anpfiff bei der Hand nehmen: dieses Ritual symbolisiert Bindung, Identität, Zusammengehörigkeit, also gemeinsames, reibungsloses Funktionieren-Wollen. Lernen bedeutet, dass sich eine Gruppe von Nervenzellen immer stabiler miteinander vernetzt, d.h. das neuronale Muster kann aufgrund von Bahnungsprozessen immer schneller und leichter aktiviert werden (durch wenig Lernen entsteht ein „Trampelpfad“, durch intensives Lernen eine „breite Datenautonbahn“). Eine solche Bahnung, also die Bereitschaft der Nervenzellen aufgrund von Lernprozessen gemeinsam zu reagieren, wird in der Begrifflichkeit der Schematherapie Schema genannt. Die Fähigkeit, die Fußspuren sowohl konkav als auch konvex zu sehen setzt auf neuronaler Ebene somit die Existenz zweier Wahrnehmungsschemata voraus. Ein Modus stellt dagegen den momentanen Aktivierungszustand („In diesem Augenblick sehe ich die Füße eingedrückt!“) eines Neuronenverbandes dar.

 

Unsere inneren Strukturen „gaukeln uns vor“, wir würden ein getreues Abbild der Welt sehen, stattdessen sehen wir jedoch nicht „die Welt“, sondern das, was unsere vorhandene Strukturen (die neuronalen Bahnungen in Form von Schemata) uns anbieten. Das jeweils gebildete Wahrnehmungsschema lässt uns nicht frei sein in unserer Sicht (sonst könnten wir reibungslos zwischen beiden Perspektiven wechseln), stattdessen sitzen wir in unserer subjektiven „Wahrnehmungsfalle“, da sich unser Nervensystem an dieser bestimmten Stelle „fest-gelegt“ hat. Dieses Phänomen nennt man in der Chaostheorie „Versklavung“ durch einen Ordnungszustand („Attraktor“). Um uns aus dieser Situation zu befreien, um also näher an die Realität des Bildes (das zwei Sichtweisen beinhaltet) heranzukommen, müssen wir versuchen, uns von unserer empfundenen Realität zu lösen, zu distanzieren. Dies ist nicht leicht und bedarf der schon beschriebenen Destabilisierungsversuche.  

 

Die Begriffe „Schema“ und „Modus“ wurden in Zusammenhang mit den Kippbildern auf ein einfaches Wahrnehmungsphänomen angewandt. In der Schematherapie werden diese Begriffe jedoch meist für komplexere Verhaltenstendenzen benutzt. Betrachten wir ein Beispiel: Ein Kind (Arthur), das in seiner Entwicklungsgeschichte häufig Situationen eines Kontrollverlusts erlebt, wird in solchen Momenten mit intensiven Angstgefühlen reagieren. Im Sinne des neurobiologischen Verständnisses formuliert: Arthur „übt“ aufgrund der häufigen Aktivierung der Angst-Zentren im Gehirn intensiv, Angst zu haben, d.h. es bildet sich im Verlauf dieses Lernprozesses eine breite „Angst-Datenautobahn“. Dieses Angstschema wird auch im Erwachsenalter leicht aktivierbar sein. Arthur könnte nun aufgrund seines in der Vergangenheit angelegten Angst-Schemas sogar in solchen Situationen häufig mit Angst reagieren, die für ihn als Erwachsener eigentlich gut handhabbar sein könnten und in denen andere z.B. eher mit Ärger regieren. Wird er beispielsweise bei der Arbeit durch seinen Vorgesetzten böse angeguckt, zuckt er zusammen und überlegt: „Was habe ich falsch gemacht?“, während eine Arbeitskollegin, die ebenfalls einen schlechtgelaunten Blick vom Chef abbekommt, diesen mit den Worten konfrontiert: „Was ist denn los, geht es Ihnen heute nicht gut, Sie sehen irgendwie bedrückt aus!“. Die geschilderte Situation macht deutlich, dass nicht der „Reiz“ „böser Blick“ die Ursache für die ängstliche Reaktion ist (die Kollegin reagiert anders, nämlich mit Neugierde!), sondern nur der Auslöser der Angst. Die Ursache ist dagegen ein früh gebildetes Angstschema. Die Subjektperspektive, die Arthur bei sich völlig selbstverständlich erlebt, ist somit geprägt durch die Entstehungsbedingungen der frühen Lebensjahre: Im heutigen Fühlen werden „Schubladen“ aktiviert, die früher angelegt wurden. In diesem Sinne sind wir „Sklaven“ der Vergangenheit, was jedoch nicht heißt, dass wir diese frühen Prägungen nicht durch neue Lernprozesse relativieren oder gar überwinden können.

 

Anhand des eben geschilderten Beispiels lassen sich die Begriffe „Schema“ und „Modus“ noch einmal genauer definieren. Arthurs Angst-Schema ist die aufgrund von Bahnungsprozessen entstandene stabile Bereitschaft der Nervenzellen, gemeinsam zu reagieren. Das Schema lässt sich nicht beobachten! Der Modus als aktueller Aktivierungszustand ist mit seinen kognitiven (Arthur hat den Gedanken: „Hab ich was falsch gemacht?“), emotionalen (er spürt Angst), physiologischen (erhöhter Herzschlag, die Muskulatur verkrampft sich) und verhaltensmäßigen (Arthur zuckt zusammen, zieht sich zurück) Anteilen oft auch von außen zu beobachten.

 

Literatur:

Grawe, Klaus: Psychologische Therapie. Göttingen: Hogrefe 2000.

Roediger, Eckhard: Praxis der Schematherapie. Stuttgart: Schattauer GmbH 2010.