Psychotherapeutische Praxis  Ralph Dengel
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Lösungs- und Klärungsorientierung in der Verhaltenstherapie

 

Die Verhaltenstherapie unterscheidet zwei unterschiedliche Perspektiven: die Lösungs- und die Klärungsorientierung. Im therapeutischen Prozess findet meist ein häufiger Wechsel zwischen beiden Perspektiven statt. Die beiden Begriffe sollen anhand einer Geschichte erläutert werden.  

 

Stellen wir uns einen jungen Mann – nennen wir ihn Arthur – vor, der nach dem Schulabschluss mit der Frage ringt: „Wie soll es nun weitergehen in meinem Leben? Welchen Beruf möchte ich ergreifen?“ Eigentlich weiß Arthur sehr genau, was er will, denn er hat eine Leidenschaft, eine Vision, er fühlt eine Berufung in sich: Er würde gerne Schauspieler werden. Allerdings gibt es ein Hindernis: unser Protagonist hat ein eher unsicheres, sensibles, schüchternes Naturell. Nun zerbricht er sich den Kopf und denkt: „So unsicher, wie ich bin… ist die Schauspielerei da eine vernünftige Berufswahl? Wenn ich mir nur vorstelle, dass ich auf der Bühne stehe und etwa einen selbstbewussten Haudegen verkörpern soll, wird mir ganz flau im Magen.“ Allein die Bilder, die er in seiner Phantasie heraufbeschwört, führen zu vegetativen Reaktionen wie Erröten, Herzklopfen und Schweißausbruch. So grübelt und quält er sich mehrere Wochen lang mit seinen Gedanken und Selbstzweifeln. Schließlich gibt er sich jedoch einen Ruck und kommt zu dem Schluss: „Ja, es soll die Schauspielerei sein: dieser Beruf ist mein Lebenstraum!“ Weiter denkt er: „Sicher, ich bin zwar unsicher, aber das sind doch die meisten Schauspieler. Es ist ja nahezu ein Klischee, zu sagen, Künstler seien sensible Menschen ohne dickes Fell. Und wenn andere das schaffen, kriege auch ich das hin! Wie? Ich werde Schauspielunterricht nehmen, das Handwerk der Schauspielerei erlernen, mir die notwendigen Techniken aneignen. Also: Atemtechnik, Gestik, Mimik, an der Körpersprache arbeiten: Blickkontakt, lächeln, Augenbrauen hochziehen, mit den Ohren wackeln, Rhetorik, Stimmführung, all diese Mittel und Techniken muss ich tief inhalieren.“ Und er denkt weiter: „Sobald ich das alles gut beherrsche, kann ich Selbstbewusstsein verkörpern. Ich werde in jede Rolle schlüpfen und sie ausfüllen können. Denn wenn ich mein Handwerk erlernt habe, kann ich mich auf meine Technik verlassen!“

 

Arthur bewirbt sich also an einer Schauspielschule, lässt sich als Vorbereitung zur Aufnahmeprüfung von einem erfahrenen Schauspieler intensiv coachen und seine Aufnahmeprüfung verläuft ausgezeichnet; er bekommt einen Studienplatz. Nun legt er um so motivierter los: er übt intensiv und mit zunehmender Erfahrung spürt er: „Was ich hier mache, bereitet Spaß und ergibt Sinn!“  Als er schließlich seinen ersten großen Auftritt hat, schlägt ihm das Herz zwar bis zum Hals, aber es fällt ihm gar nicht so schwer, sich zu überwinden: er betritt die Bühne und spielt seine Rolle mit großem Erfolg. Er verliert auch in der Zukunft zwar nie ganz seine Aufgeregtheit, aber mit zunehmender Lebenserfahrung und Selbstbestätigung läuft seine Performance immer reibungsloser und er wird immer sicherer und selbstbewusster.

 

Diese Vorgehensweise von Arthur wäre eine klassische verhaltenstherapeutische Vorgehensweise im Sinne der Lösungsorientierung. Er sagt sich: „Ich will nicht an die ganzen Ursachen meiner Schüchternheit ran und die Gründe dafür aufdröseln“ (z.B. die alten Wunden, Verletzungen aus der Kindheit, die sich aus den bewussten und unbewussten Konflikten mit den Eltern ergeben), „sondern ich will die Seite, die mir fehlt, leben, das bedeutet aber: ich muss mir die notwendigen Techniken aneignen!“ Arthur sucht also die direkte Konfrontation mit seinen Ängsten. Er hat den Mut dazu, weil er sich ihnen nicht schutzlos ausgeliefert fühlt, denn er erarbeitet sich im Vorfeld die Mittel und Techniken, um seine Ängste kontrollieren zu können. Als Schauspieler weiß er genau (wie auch ein Musiker, Tänzer, Sportler oder Artist), dass Lernen und Üben Hand in Hand gehen und eine disziplinierte Übungskultur eine wesentliche Voraussetzung des Talents und der Persönlichkeitsentwicklung ist.

 

Es ist ein zentraler Gedanke der Verhaltenstherapie, dass Erkenntnis alleine nicht ausreicht, um sich zu verändern. Von der Erkenntnis soll ein Transfer auf die Verhaltensebene stattfinden! Es reicht z.B. nicht aus, einerseits zu wissen, dass man in einer Partnerschaft das Recht hat, sich auch um eigene Bedürfnisse zu kümmern und andererseits zu verstehen, welche Einflüsse der eigenen Entwicklungsgeschichte zu den Hemmungen geführt haben, dieses Recht wahrzunehmen. Es muss auch die Verhaltenskompetenz erlernt werden, die eigenen Bedürfnisse zu spüren, diese selbstbewusst zu benennen und durchzusetzen. Das bedeutet, dass die Verhaltenstherapie bei aller Klärungsarbeit immer sehr handlungsorientiert bleibt. Deshalb sind Rollenspiele ein häufiges Mittel in der Verhaltenstherapie, um beispielsweise sozialkompetentes Verhalten aufzubauen. Durch Üben wird das neu angestrebte Verhalten, das sich anfänglich oft noch ganz „ungelenk“ anfühlt, zunehmend automatisiert. So wird es zu etwas Gewohntem, zu einem verlässlichen Teil des eigenen Lebens, denn das Verhalten wird durch das Training ins Körpergedächtnis überführt. Auf diese Weise schafft sich der Mensch ein positives Unbewusstes, auf das er sich auch im Moment der Bedrängnis, verlassen kann. So kann auch Arthur trotz des Lampenfiebers auf die Bühne gehen, weil er in diesem Moment auf seine Technik zurückgreift, schließlich hat er diese und viele andere Rollen lange geübt.

 

Aber kehren wir zurück zu Arthur und spinnen seine Geschichte noch etwas weiter: Er studiert begeistert und zunächst ist alles gut. Als seine Mutter jedoch erkrankt, kommt es zu einem Einschnitt in seinem Leben. Er zieht nun aus seiner geliebten Studenten-WG aus und im Haus einer Mutter wieder ein, um sich mehr um sie kümmern zu können. Arthur steht nun unter einer deutlich höheren Belastung: Studium einerseits, die Pflege der Mutter anderseits; hinzu kommt auch die Unzufriedenheit darüber, für das lustvolle Studentenleben der Vergangenheit kaum noch Zeit zu haben. Er gibt nach wie vor sein Bestes, um seine Schauspielkunst zu vervollkommnen, aber die Doppelbelastung zehrt an seinen Kräften. Er steht inzwischen kurz vor dem Abschlussexamen, was den Stresspegel weiter erhöht, denn nun muss er sich eine Hauptrolle in einem Stück erarbeiten.

 

Was macht Arthur in dieser Situation? Er macht das, was für ihn schon früher eine gute Problemlösungsstrategie war: er übt und übt, versucht sich optimal vorzubereiten, oft bis spät in die Nacht. Am Tag seines Abschlussexamens wird jedoch das Lampenfieber immer größer und kurz vor seinen Auftritt erleidet er eine Panikattacke. Er bricht alles ab, flieht nach Hause, fällt durch sein Examen.

 

Sein Selbstbewusstsein ist nun dahin und er denkt: „Wie konnte das passieren? Ich habe mich so gut vorbereitet und dennoch bin ich gescheitert. Das Gefühl der Panik war so grauenvoll… Wie soll ich mich je wieder auf die Bühne trauen?“ Arthur fällt die Entscheidung, sich Unterstützung zu holen. Im Verlauf der psychotherapeutischen Arbeit wird ihm klar, dass sich hinter der Panikattacke ein Autonomiekonflikt verbirgt, der im Zusammenhang steht mit seinen Verpflichtungen der Mutter gegenüber. Wenn er sein Examen machen würde, hätte dies die Konsequenz, dass er eine Anstellung in der großen weiten Welt suchen müsste; es wäre notwendig, die Stadt zu verlassen, was bedeuten würde, dass er die Mutter nicht mehr pflegen könnte usw. Das möchte er jedoch nicht, weil er in dem Bewusstsein erzogen wurde „In der Familie hält man zusammen, man darf sich gegenseitig nie im Stich lassen!“ Diese Lebensleitlinie (ein „Introjekt“, das durch Erziehung vermittelt wurde, denn man wird damit nicht geboren) steuert sein Verhalten.

 

Durch dieses verinnerlichte Schema befindet sich Arthur in einem dramatischen Konflikt. Auf der einen Seite möchte er sich selbst verwirklichen (auch das ist ein Schema, das er durch die Erziehung seiner Eltern vermittelt bekommen hat: „Strenge dich an, sei gut, dann kannst du etwas erreichen in deinem Leben!“): Wenn er sich also voll auf das Studium konzentriert (er kümmert sich in diesem Moment besonders um sein Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung, Selbstverwirklichung), dann bekommt er ein schlechtes Gewissen, weil er das Gefühl hat, seine Mutter zu vernachlässigen (das familiäre Bindungsbedürfnis kommt in diesem Moment zu kurz). Kümmert er sich aber um die Mutter und verwirklicht dadurch seine Vorstellung von einem guten Sohn, dann ist er frustriert, weil er sein Bedürfnis nach Selbstverwirklichung vernachlässigt. Diese beiden Motive und Bedürfnisse blockieren ihn also in der Form eines Konfliktes, dessen er sich nicht bewusst war, und erhöhen sein Anspannungsniveau. Er hat zwar gemerkt, dass er Stress hat durch die Belastung von Studium und Krankenpflege, aber ihm war nicht bewusst, wie stark dieser äußerliche Aspekt („Ich habe viel um die Ohren!“) mit einem tiefer liegenden motivationalen Konflikt seiner Identität (auf der Ebene verinnerlichter Lebensleitlinien und der Grundbedürfnisbefriedigung) zu tun hat, der ihn nicht frei sein lässt.

 

Nach diesem klärungsorientierten Vorgehen denkt er: „Ich muss mich entscheiden! Was will ich eigentlich?“ Er könnte sich z.B. sagen: „Die Pflege meiner Mutter hat oberste Priorität und ich ordne alles andere diesem Ziel unter.“  In diesem Fall könnte er sich ein Urlaubssemester nehmen und würde das Bindungsbedürfnis in seiner motivationalen Hierarchie am höchsten gewichten. Oder er könnte erkennen, dass die „Fessel“ des familiären Schemas („Wir müssen unter allen Umständen zusammenhalten!“) etwas ist, von dem er sich emanzipieren möchte. Lebensleitlinien werden oft über Generationen in einem Familiensystem weitergegeben. Meist stammen sie aus einer Zeit, in der sie überlebenswichtig waren; aber die Welt verändert sich und damit kann das Schema seine Funktionalität verlieren. In diesem Fall würde er dem Bedürfnis nach Selbstentfaltung Priorität geben und könnte beispielsweise sagen: „Ich möchte mein Leben leben und es gibt alternative Möglichkeiten, die Pflege zu realisieren über welch Mutter selbst entscheiden muss. Sie kann nicht erwarten, dass ich mein Leben in den Dienst ihres Lebens stelle.“ Eine dritte Möglichkeit wäre, dass Arthur entscheidet: „Ich versuche, beiden Bedürfnissen gerecht zu werden, aber nicht gleichzeitig. Zuerst werde ich mich mit Mutter darum kümmern, dass sie eine gute Lösung für ihre Situation findet, und danach werde ich mich guten Gewissens um mich und mein Vorankommen kümmern.“

 

In allen drei Varianten hätte Arthur die Lösung eines Konflikts herbeigeführt: Etwas, was zunächst unbewusst war (ein motivationaler Konflikt zwischen den Schemata: Verwirkliche dich selbst! und Sei ein guter Sohn!), wäre nun aufgelöst. Durch den therapeutischen Erkenntnisprozess kommt er zu mehr Klarheit hinsichtlich seiner eigenen Bedürfnis- und Motivlage, was die Voraussetzung ist für eine selbstbestimmte, freie Entscheidungsfindung, d.h. nach der Klärungsarbeit kann wieder der Wechsel auf die Lösungsebene stattfinden.

 

In vielen Lebenssituationen kann es zu motivationalen Konflikten kommen, die daraus erwachsen, dass unterschiedliche Bedürfnisse miteinander konkurrieren. Bleiben diese Konflikte unbewusst und ungelöst, entsteht Stresserleben, was die Auftretenswahrscheinlichkeit von Ängsten oder auch Depressionen erhöht.  

 

Einige weitere Beispiele für motivationale Konflikte (zitiert nach Roediger 2010, S. 48):

 

"1. Gegenüber der Lust, Achterbahn zu fahren, kann die Angst, die Kontrolle zu verlieren, so groß sein, dass doch nicht gefahren wird (Bedürfnis nach Kontrolle hemmt das Lustbedürfnis)

2. Ein Mann hat eine Frau, von der er sich oft schlecht behandelt fühlt. Einerseits möchte er gerne die Beziehung aufrechterhalten, andererseits ist sein Selbstwertgefühl durch die Demütigungen bedroht (das Bindungsbedürfnis hemmt den Selbstwert).

3. Ein Mann geht leidenschaftlich gerne angeln. Seine Frau ist aber eifersüchtig, weil er die Zeit nicht mit ihr verbringt, und macht ihm dauernd Szenen (Lust steht in Konflikt mit dem Bindungsbedürfnis).

4. Ein Mensch bevorzugt bestimmte sexuelle Praktiken, schämt sich aber, sie umzusetzen. (Selbstwert hemmt Lust).

5. Eine Frau ist eigentlich glücklich mit einem Mann verheiratet, der aber spielsüchtig ist und so ihre existenzielle Sicherheit bedroht. (Konflikt zwischen dem Bindungsbedürfnis und dem Kontrollbedürfnis)."

 

Literatur:

Roediger, Eckhard: Praxis der Schematherapie. Stuttgart: Schattauer GmbH 2010.