Psychotherapeutische Praxis  Ralph Dengel
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Entfalte dich, aber zeige dich nicht!

 

Grundbedürfnisse, Lebensleitlinien, motivationale Konflikte, der Selbstentwurf  

 

Das Seelenleben des Menschen kann, metaphorisch gesprochen, als Akkordfolge beschrieben werden, deren manchmal harmonisches, manchmal aber auch recht schrill verstimmtes Klangbild durch das Zusammenspiel seiner verschiedenen „Töne“ entsteht, also durch die gleichzeitige Wirkung von Wahrnehmung, Gedanken, Gefühlen, Motivation, Handeln, bewussten und unbewussten Prozessen vor dem Hintergrund der menschlichen Bedürfnisse.

 

Die unüberschaubare Vielzahl dessen, was als Bedürfnis das menschliche Vorstellungsvermögen, Begehren, Wollen, Planen und Handeln zu entflammen vermag, hat Grawe (1997) den vier Grundbedürfnissen nach Bindung, Kontrolle/Orientierung, Selbstwerterhöhung und Lustgewinn/Unlustvermeidung zugeordnet. Die überragende Bedeutung des Bindungsbedürfnisses ist für den Menschen, dieses „instinktentbundene Mängelwesen“, wie es der Philosoph und Anthropologe Arnold Gehlen kurz und treffend formulierte, ganz offensichtlich. Während etwa eine Schildkröte, sobald sie aus ihrem Ei geschlüpft ist, instinktsicher den direktesten Weg ins Wasser zu finden vermag, um, ganz auf sich gestellt, ins Leben durchzustarten, ist das ohnmächtige und abhängige Menschenkind, um überlebensfähig zu werden, auf jahrelange Fürsorge und Lernprozesse angewiesen. In der Reifung hin zur Selbstständigkeit erlangt der Mensch zunehmend Kontrolle und Orientierung in seiner ihm immer vertrauter und durchschaubarer werdenden Umwelt: Er erkennt ihre Spielregeln und entwickelt die Kompetenz zur Problemlösung, was es ihm ermöglicht, seinen Selbstwert durch zunehmende Selbstwirksamkeit im Umgang mit Problemen zu erhöhen. Das erfolgreiche Umsetzen von Zielen und die Abwehr von Schwierigkeiten und Bedrohungen mehren sein Glück und seine Zufriedenheit im Sinne des Lustgewinns und dienen der Vermeidung aversiver Gefühle wie Angst, Sorgen und Frustration (Unlustvermeidung).

 

Die Erziehung des Kindes und seine Autonomieentwicklung sind dabei eine notwendigerweise von Spannungen, Reibungen und Verletzungen begleitete Entwicklung, stehen eben jene Bedürfnisse des Kindes, welche dieses auf seinem Weg hin zum Erwachsenen immer selbstbestimmter wahrzunehmen, zu differenzieren, zu artikulieren und durchzusetzen lernen soll doch allzu oft im Gegensatz zu den Erwartungen und Ansprüchen der Bezugspersonen und den Normen gesellschaftlichen Institutionen. Das Gelingen von Erziehung und Persönlichkeitsentwicklung ist somit davon abhängig, inwiefern Kind und Umwelt in ihrem teilweise konflikthaften Verhältnis zu einer guten Kompromissbildung finden zwischen den Bedürfnissen des Kindes einerseits und den Anforderungen der Umwelt andererseits. Sind in diesem Prozess die Spielräume zum Spüren, Ausprobieren, Kommunizieren, Verhandeln und Kompromissfinden groß genug, wird das Kind immer besser lernen, einen harmonischen Ausgleich zwischen seinen Grundbedürfnissen anzustreben, was sich in psychischer Stabilität und Gesundheit niederschlagen wird.

 

Dieser „Deal“ zwischen Kind und Eltern wird sich selten in einem idealen Sinne vollziehen. Konstruieren wir zur Veranschaulichung ein Fallbeispiel. Stellen wir uns ein Ehepaar - Eltern einer Tochter, Elke - vor, das sich auf seinem Lebensweg durch Fleiß und harte Arbeit gesellschaftlich nach oben gekämpft hat und nun in seiner privilegierten Position überbemüht ist, insbesondere vor den weniger gut situierten Verwandten, ein integeres Verhalten an den Tag zu legen, das von niemandem als überheblich, arrogant oder gar stolz interpretiert werden könnte. In der Beziehung zu ihrer Tochter ist den Eltern ein zentrales Anliegen, dieser das eigene Arbeitsethos und ihre Bescheidenheit, die sie für sich als Erfolgsrezept ihrer Persönlichkeitsentwicklung und ihres Vorankommens identifiziert haben, zu vermitteln. So fordern sie von ihr Engagement und gute Leistungen in der Schule und sagen ihr zum Ansporn oft: „Alles in deinem Leben ist möglich, die Welt steht dir offen. Die einzig existierende Grenze schafft der Mensch sich selbst: durch seine Dummheit und Faulheit!“ Gleichzeitig weisen die Eltern ihr Kind jedoch immer wieder zurecht, wenn dieses aufgrund von Erfolgen allzu freudig nach Hause kommt, denn: „Dummheit und Stolz wachsen auf einem Holz!

 

Betrachten wir die Auswirkungen dieser familiären Leitlinien auf die Entwicklung der Tochter und ihre sich daraus ergebende Grundbedürfnisbilanz. Der Fleiß, den sie an den Tag legt, kommt ihrem Bedürfnis nach Kontrolle und Orientierung zugute: sie mehrt ihr Wissen und ihre Kompetenzen und sie vermag sich in einer vom Leistungs- und Konkurrenzgedanken bestimmten Umwelt wie der Schule gut anzupassen, was ihr, auch aufgrund ihres bescheidenen Auftretens, eine angesehene Stellung vor den Lehrern und im Klassenverband einbringt. Da sie eher dazu neigt, sich die familiären Werte anzueignen und zu verinnerlichen, als gegen sie zu rebellieren, sichert sie ihr Bedürfnis nach Bindung zu den Eltern ab. Die Leistungserwartungen der Eltern können jedoch zu einem schwerwiegenden Problem werden, wenn die Tochter das Gefühl entwickelt, deren Aufmerksamkeit nur durch Unterordnung an ihre Leistungsmaximen zu erhalten. In diesem Fall bleibt die Bindung zwischen Eltern und Tochter defizitär: die Tochter wird ihren Selbstwert kaum stabil entwickeln, da die Anerkennung der Eltern doch weniger sie als Persönlichkeit mit all ihren Fassetten, Stärken und Schwächen meint, als den äußeren Aspekt der erbrachten Leistungen, was ihr Bedürfnis nach Anerkennung und Liebe nie ausreichend stillt. Hinzu kommt, dass sie aufgrund der Ermahnungen der Eltern natürliche und gesunde Impulse von Freude und Stolz über ihre Erfolge zunehmend unterdrückt, mehr noch, mit der Zeit reagiert sie auf gute Noten und das Lob der Lehrer oder Gratulationen der Mitschüler mit Scham-, Schuld- oder sogar Minderwertigkeitsgefühlen.

 

Die Grundbedürfnisbilanz ist somit problematisch; dennoch könnte Elke während ihrer Jugend und Adoleszens gut „klarkommen“. Sollte sie z.B. die Anforderungen der Schule „mit links“ bewältigen, bliebe ihr genügend Zeit, sich auch jenseits des dominierenden Bereichs der elterlichen und eigenen Leistungsansprüche zu erfahren und zu entfalten: Sie führt eine Beziehung, hat einen intakten Freundeskreis und es bleibt genügend Freizeit, um verschiedenen lustvollen Beschäftigungen nachzugehen. So ruht ihr Leben auf mehreren Säulen (Leistung, Partnerschaft, Freundschaften, Hobbies usw.), was ihm Stabilität gibt und ihr psychisch hilft, Krisen in einem Bereich (z.B. Trennung vom Freund) durch Erfolge in einem anderen zu überwinden (gutes Abitur).

 

Nach dem Schulabschluss zieht Elke nun zum Studieren ins Ausland. Familie und Freundeskreis sind plötzlich weit weg, die Konfrontation mit einer völlig neuen Lebenssituation stellt einen Umbruch dar, der mit beträchtlichen Ängsten einhergeht. Hinzu kommt, dass sich die Konkurrenzsituation an der Universität deutlich verschärft, sich die eigenen Ansprüche und die der Eltern jedoch keinesfalls verringert haben. Im Gegenteil, mit Blick auf zukünftige Berufschancen ist der Wunsch nach einem erfolgreichen Studium und einem ausgezeichneten Abschluss besonders stark. In dieser verunsichernden Situation mobilisiert Elke umso konzentrierter ihre verlässliche Ressource der Leistungsbereitschaft und vernachlässigt es u.a., Zeit in den Aufbau eines neuen Freundeskreises zu investieren. 

 

In der weiteren Entwicklung führt ihr Studieneifer zu einem sich verfestigenden Perfektionismus, der sie in Leistungssituationen jedoch zunehmend unsicher macht, da er mit dem Gefühl einhergeht, nicht „gut genug“ zu sein: die Kommentare „gut!“ und „sehr gut!“ unter Klausuren oder Hausarbeiten zählen für sie immer weniger, sondern nur noch der Maßstab ihres internalisierten Antreibers, der rücksichtslos „absolute Perfektion!“ einfordert. Der innere Druck, den sie deshalb vor Prüfungen aufbaut, führt schließlich zu Stressreaktionen in Form von 

Konzentrationsproblemen und Blockaden beim Denken, die es ihr trotz gewissenhaftester Vorbereitung nicht mehr erlauben, ihr Potential voll auszuschöpfen. Die für sie nun nicht mehr stimmigen Resultate der Prüfungen verstärken Insuffizienz- und Schamgefühle; ihr ohnehin schwach ausgeprägtes Selbstbewusstsein sinkt. Ihr Bemühen, durch noch mehr Lernen die Situation wieder unter ihre Kontrolle zu bringen und damit auch die Beziehung der mit Enttäuschung auf das „Versagen“ der Tochter reagierenden Eltern wieder zu stabilisieren, geht auf Kosten lustvoller erholsamer und sozialer Aktivitäten in der Freizeit. Nun hat sich ein Teufelskreis gebildet: Selbstbild und Selbstwirksamkeit treten immer deutlicher auseinander; der Konflikt (die psychische Inkonsistenzspannung – wie Grawe dies nennt - durch das Auseinanderklaffen von Erwartungen und aktuellen Erfahrungen) verstärkt sich und führt zu immer rigideren Bewältigungsstrategien nach dem alten Erfolgsrezept („Mehr Desselben: mehr Lernen!“). Die Selbstüberforderung droht in Erschöpfung und Depression zu münden.   

 

Das skizzierte Fallbeispiel macht deutlich, dass durch die Art der Bindung zu den Eltern, bei der seelischen Strukturbildung der Tochter eine „Fehlprogrammierung“ des Motivationssystems entsteht: Sie entwickelt kein Selbstbewusstsein, das es ihr ermöglicht, in sich zu Ruhen und sich selbst zu verstärken. Stattdessen hat sie das Gefühl, als Mensch nicht auszureichen, ein Ausdruck der unsicheren Gebundenheit an die Eltern, die nie bedingungslos an sie geglaubt haben. Sie muss erst „werden, um zu sein“, muss sich Bestätigung, Aufmerksamkeit und Anerkennung durch Leistung immer wieder aufs Neue verdienen. Dabei entsteht während der Studienzeit eine Fixierung auf das Kontrollbedürfnis („Wenn ich nur genug lerne, wird alles gut!“) das alle anderen Bedürfnisse kompensieren soll: Das Leben ruht nun ganz auf dem Leistungsaspekt und diese „Monokultur“ macht es störanfällig. Das Ideal einer auf Ausgeglichenheit der Grundbedürfnisse bedachten „Harmonielehre“ des Psychischen wird verfehlt und es mischen sich ins Seelenleben Elkes immer mehr „Dissonanzen“.

 

Dieser Prozess wird durch das Vermächtnis des familiären „Konfliktschemas“ noch verstärkt. Das Handeln Elkes ist zwar bestimmt von der expansiven Maxime „Sei gut, erfolgreich und setze dich gegenüber anderen durch!“, steht jedoch auch in einem scharfen Spannungsverhältnis zu der defensiven Regel: „Erfreue dich nicht an deinen Erfolgen, das ist überheblich, stolz und dumm!“. Diese Doppelbotschaft („Entfalte dich aber zeige dich nicht!“) führt  zu einer inneren Zerrissenheit; die unterschiedlichen psychischen Kräfte ziehen nicht mehr an einem Strang: der Seelenakkord verstimmt sich zunehmend. So folgt dem spontanen Freudeimpuls über eine gute Note ein Gefühl von Scham oder Schuld (ambivalente Emotionen). Oder: Nach Rückgabe einer erfolgreich bestandenen Klausur geht Elke zwar zu einer Kommilitonin, um sich mit ihr auszutauschen, deren Nachfrage, welche Note sie habe, führt aber zum Erröten; sie wendet den Blick von ihrer Gesprächspartnerin ab und murmelt etwas Unverständliches (ambivalentes Handeln, uneindeutige Signale). Und: Sie verbringt immer mehr Zeit mit Lernen, ist aber nicht konzentriert bei der Sache, da sie oft sehnsuchtsvoll an die lustvollen Freizeitaktivitäten von früher denkt, die sie inzwischen völlig vernachlässigt (ambivalente Motivation). So fühlt sich Elke weder im Modus der Selbstentfaltung (gefolgt von Schuldgefühlen) noch im Modus der Selbstzurücknahme (es nagt die Unzufriedenheit) je mit sich im Reinen. Wahrnehmung, Handeln, Motivation, Emotionen und Gedanken stehen nicht konsistent im Dienste eines Wunsches, Handlungsplanes und Zieles, sondern entgegengesetzter, was zu widersprüchlichen Verhaltensimpulsen führt. Hemmungen, Blockaden, chronische Unzufriedenheit, ein sich kontinuierlich erhöhendes Stressniveau und eine ungünstige Grundbedürfnisbefriedigung sind die Folge.

 

Motivationale Konflikte wie die hier geschilderten sind oft unbewusst. Wie Grawe (1997) schreibt, sind paradoxerweise oft die  identitätsnahesten Motive unseres Handelns gleichzeitig die bewusstseinsfernsten. Das Gewohnte und Selbstverständliche macht uns blind für die sozialisierte Herkunft und Fremdbestimmtheit der Lebensleitlinien/Schemata, die unser Verhalten lenken, und für die alternativen Handlungsmöglichkeiten, mit denen wir uns aus der Falle sich anbahnender Teufelskreise befreien könnten. Auch Elkes Studium im Ausland könnte Ausdruck eines unbewussten Wunsches sein, sich der Kontrolle und dem Einfluss der Eltern zu entziehen, um mehr Eigenständigkeit zu erlangen. Die Verunsicherung und Angst fern der Heimat führt dann jedoch zu einer Reaktivierung bewährter Bewältigungsstrategien („Erobere die Welt durch Leistung!“), was ihr zwar kurzfristig wieder Sicherheit, Stabilität und Identität gibt, aber ihre Emanzipation von dem Familienprogramm verzögert. Der Prozess der Individuation, der die bewusste Entscheidung, neue Prioritäten im Leben zu setzen notwendig machen und eine ausgeglichenere Lebensführung ermöglichen würde (etwa dadurch, dem Genuss, dem Spaß und der Leichtigkeit in Zukunft mehr Rechte einzuräumen als den  selbstquälerisch-perfektionistischen Leistungsansprüchen), findet so nicht statt.

 

Eine Persönlichkeit mit der oben geschilderten Prägung wird ohne die bewusste Neudefinition ihrer Leitlinien, Werte und Bedürfnisse und die Neuausrichtung ihres Handelns stets eine größere Anfälligkeit dafür haben, im Berufsleben beispielsweise ein Burnout zu entwickeln. Der Wunsch nach Anerkennung durch Kollegen, Kunden oder Vorgesetzte und/oder die mangelnde soziale Kompetenz, sich gegenüber den Anforderungen und Ansprüchen der Umwelt abzugrenzen, kann leicht zu einer Mißachtung der eigenen Kräfte und damit langfristig zu einem Raubbau an der eigenen Gesundheit führen. Ein anderer Problembereich könnte sich bei der beruflichen Selbstverwirklichung ergeben. Durch die Hemmung über eigene Kompetenzen, Erfahrungen und Leistungen zu reden und so für sich zu werben, könnte es schnell dazu kommen, dass Elkes Erfolge und Potentiale vom Arbeitsumfeld übersehen werden und ihre Karriere aufgrund ihrer Bescheidenheit nicht den von ihr erwünschten Verlauf nimmt.

 

Das Fallbeispiel verdeutlicht, welche Chancen, aber auch Gefahren sich für das weitere Leben der jungen Studentin abzeichnen. Das Versagen der altbewährten Strategie der Lebensbewältigung (Disziplin, harte Arbeit, Leistung) könnte die Autonomieentwicklung Elkes fördern. Dies wird aber nur geschehen, wenn das, was emotional schon wirksam und handlungsleitend ist aber noch in ihrem Unbewussten „laviert“ (Verhalten ist primär gefühlsmäßig gesteuert und damit oft unbewusst: z.B. Elkes Bestreben, „das Weite zu suchen“, sich dem Einfluss der Herkunft durch die Wahl des Studienorts zu entziehen usw.), auch die Bewusstseinsschwelle überwindet und sich so zu bewusster Selbsterkenntnis kristallisiert. Dies geschieht in der Regel erst dann, wenn das Scheitern den Menschen zum Innehalten und zur Neubesinnung zwingt. Erst durch das Leiden stellt sich die Motivation zu neuem Handeln ein, die Selbstermächtigung zu Emanzipation und Autonomie. Dabei wird der Selbstentwurf, den ein Mensch wagt, immer wieder durch Ängste und die Schatten der Vergangenheit bedroht sein („Darf ich „fremdgehen“? Darf ich anders sein, als meine Eltern mich gedacht haben? Was wird die Familie, der Partner, der Freundeskreis dazu sagen?“). Es gilt, sich immer wieder der Herausforderung zu stellen, in der „Gegenwart zu erwachen“, sie nicht mehr mit den Kinderaugen der Vergangenheit zu betrachten, sondern selbstverantwortlich mit den Potentialen, die wir als Erwachsene haben. So fällen wir die Entscheidung, nicht unter unseren Möglichkeiten zu leben.

 

Literatur:

Grawe, Klaus: Psychologische Therapie. Göttingen: Hogrefe 2000.