Psychotherapeutische Praxis  Ralph Dengel
dengel@praxis-dengel.de

Persönlichkeitsentwicklung: Das Leben im Spannungsfeld von Stabilität und Krise

 

Kippbilder bieten uns eine gute Zugangsmöglichkeit zum Verständnis psychischer Prozesse und der Frage, wie Krisen im menschlichen Bewusstsein entstehen und wie durch sie Entwicklungen angestoßen werden.

 

 

Bei dem oben abgebildeten Würfel handelt es sich, wie bei der Fotografie der Fußspuren im Sand, um ein Kippbild. Betrachten wir den Würfel für einige Momente, erleben wir eine „Verwandlung“: Es kommt zu einem verblüffenden „Gestaltwechsel“ und plötzlich bildet jenes Quadrat, das eben noch die Vorderseite eines von „rechts oben“ betrachteten Würfels darstellte, die Rückseite eines nun von „links unten“ gesehenen Würfels (oder andersherum). Lässt man das Bild hin und her kippen und beobachtet dabei aus einer Metaposition (wie in Zeitlupe) die sich vollziehenden Vorgänge im Bewusstsein, lassen sich drei Phasen voneinander unterscheiden: Zunächst erleben wir unsere Wahrnehmung als klar und stabil und diese Ordnung geht einher mit einem Gefühl von Kontrolle und Sicherheit. Dann erleben wir einen Übergang, in ihm herrscht Konfusion/Fluktuation: die Ordnung und Struktur der Wahrnehmung lösen sich auf und das Bild verschwimmt. Dieses „Durcheinander“ ist begleitet von einem Gefühl von Verwirrung, Schwindel, Unsicherheit. In der dritten Phase organisiert sich aus dem „Chaos“ plötzlich eine neue Ordnung: Harmonie und Struktur stellen sich, zusammen mit dem Gefühl von Sicherheit, wieder ein. Hinzu kommt das Gefühl von Erstaunen oder auch Begeisterung über den erlebten Wandlungsprozess, der eine neue Sicht „auf die Welt“ erlaubt.

 

Was wir im Zusammenhang mit dem Kippbild erleben, ist unser Streben (bzw. das Streben der Psyche) nach einem Zustand der „Konsistenz“ (Phase eins und drei). Wenn wir Konsistenz in unserer Weltsicht erleben, empfinden wir uns als Subjekt, als Gestalter unseres Lebens. Wir sind „Herr im eigenen Hause“ und mit uns selbst und der Welt im Reinen: die Herausforderungen des Lebens erscheinen als handhabbar und das ermöglicht uns eine ausgeglichene und harmonische Befriedigung unserer Grundbedürfnisse (Kontrolle/Orientierung, Bindung, Selbstwerterhöhung, Lustgewinn/Unlustvermeidung). Dagegen lässt sich Inkonsistenz als Grenzerfahrung und somit als einen krisenhaften und bedrohlichen Zustand beschreiben: Unzufriedenheit, Ängste, Schwermut oder Handlungsunfähigkeit stellen sich ein (meist dann, wenn mehrere Grundbedürfnisse durch die Dominanz eines anderen kompensiert werden) und wir erleben, wie sich die fest umrissene, klar definierte Welt in unserem Bewusstsein auflöst. Finden wir keinen Ausweg aus dem Dilemma, kann die Inkonsistenzspannung bis zur schweren Existenzkrise führen, die einem jeden Halt raubt.

 

Inkonsistenz stellt sich insbesondere dann ein, wenn wir erleben, dass die aktuellen Erfahrungen, die wir machen, nicht mehr mit unseren Erwartungen übereinstimmen. Erinnern wir uns an Arthur oder Elke: beide versuchen durch intensives Lernen (eine für sie altbewährte Strategie der Lebensbewältigung), ihre Krisen zu meistern und dennoch versagt diese Maßnahme plötzlich. Ein anderes Beispiel wäre die Frustration des Bindungsbedürfnisses nach dem Scheitern einer Beziehung oder dem Tod des Partners: Die Erwartungen hinsichtlich Gemeinschaft, Halt, Austausch, Zärtlichkeit, Liebe und Sexualität werden in der neuen Situation erfahrender Isolation und Einsamkeit schwer enttäuscht, was eine depressive Entwicklung auslösen kann. Oder, um diesen Gedanken auf das Kippbild mit den Fußspuren (das eventuell nicht wie der Würfel fast von „alleine“ kippen möchte) zu beziehen: Auch hier stimmt die Wahrnehmung einer konvexen Ansicht nicht mit den Erwartungen („Das sind doch Fußspuren, die müssen konkav erscheinen!“) überein.

 

Die Erfahrungen mit dem Kippbildern versinnbildlichen metaphorisch: die „Krise“ (hier: das Versagen einer bisher zuverlässigen Wahrnehmungsstrategie) ist eine Voraussetzung dafür, dass etwas Neues entstehen, sich ein neues Bild der Wirklichkeit oder, im psychotherapeutischen Kontext: ein neues Selbstkonzept Raum verschaffen kann. Nach dieser Erfahrung sind wir zugleich ärmer und reicher! Wir sind einerseits der Illusion beraubt, die Welt „sei so“ (Ideengeschichtlich betrachtet: eine flache Scheibe, die Erde der Mittelpunkt des Weltalls, der Mensch die von Gott geschaffene Krone der Schöpfung, oder psychotherapeutisch: das Ich souveräner Herr im eigenen Hause usw.). Andererseits sind wir differenzierter, weil wir durch die Überwindung der Krise wichtige neue Erfahrungen, Erkenntnisse und Handlungsmöglichkeiten erworben haben, die uns zudem widerstandsfähiger gegenüber zukünftigen Erschütterungen machen.

 

Evolution setzt ein Defizit voraus; dies gilt auch für unsere Persönlichkeitsentwicklung: die Krisen unseres Lebens, jene Momente, in denen unser Wirklichkeitskonzept brüchig wird, bilden die treibenden Kräfte der Identitätsentwicklung. So schmerzhaft die Krise auch erscheinen mag: wenn wir bereit sind, eine neue Erfahrung zulassen, werden wir Zeuge einer Verwandlung unseres Selbst. Dies setzt jedoch Mut voraus: „eine neue Erfahrung zuzulassen“ bedeutet, die Angst auszuhalten, über eine Grenze zu gehen. Bezogen auf das Kippbild: wir müssen die eine Sichtweise loslassen und die verwirrende Phase der Konfusion durchlaufen. Loslassen erzeugt neben Angst oft auch Trennungsschmerz, denn das Gewohnte (selbst wenn es uns belastet) gibt gleichzeitig auch Halt und Sicherheit.

 

Die Lösung eines Problems (selbst bei einer übermächtig erscheinenden Krise) ist nicht zwangsläufig „kompliziert“, aber ich muss offen sein für etwas Neues und einen „freien Blick“ bekommen. Psychotherapie bietet einen sicheren, geschützten Rahmen für die Möglichkeit, neue Sichtweisen kennenzulernen und neue Erfahrungen zu machen. In der Phase der Instabilität erleben wir ein Zerbrechen, eine Auflösung unserer Gewissheiten und der gewohnten Stabilität: Es öffnet sich eine neue Türe, ich weiß aber noch nicht, wo sie mich hinführen wird. Durch den „Gestaltwechsel“ findet dann ein heilendes Kippen in die Ordnung eines höheren Bewusstseinszustandes und einer tieferen Selbst- und Welterkenntnis statt: Eine neue Ganzheitlichkeit stellt sich ein. Grawe verweist auf den ethymologischen Zusammenhang zwischen dem englischen Wörtern „whole“ (ganz) und „health“ (Gesundheit): Einen Zustand der Inkonsistenz zu überwinden, also etwas Zerbrochenes wieder zusammenzufügen oder etwas Konflikthaftes, Abgespaltenes, Verdrängtes zu integrieren, bedeutet, die Persönlichkeit wieder „ganz“ zu machen und ihr dadurch Heilung zu ermöglichen.

 

Am Beginn der jüdisch-christlich abendländischen Kultur steht der Mythos vom Sündenfall. Adam und Eva leben im Paradies. Wie mögen sie dieses Leben in Glückseligkeit empfunden haben? Konnten sie ihre Seinsweise ohne jede Kontrasterfahrung wertschätzen, als erfüllend empfinden? In vollkommener Harmonie „plätscherte“ das Leben vor sich hin… endlos… Doch eines Tages passiert etwas Eigenartiges. Gott weist Eva und Adam in ihre Schranken: Er verbietet ihnen, von den Früchten des Baumes der Erkenntnis zu essen. Nun ist nichts mehr, wie es war. Die Neugier, die Wissbegier, das Geheimnisvolle jener Frucht nagen an ihren Nerven… Nachdem eine sprechende Schlange die Inkonsistenzspannung unserer Urahnen weiter anstachelt, führt das Verbot Eva und Adam in die Rebellion. Es kann nicht anders sein. Durch ihre Emanzipation von Gott werden sich Eva und Adam ihrer selbst bewusst, sie unterscheiden nun zwischen Gut und Böse, sind schuldfähig und durch Gottes Strafe werden Schmerz, Arbeit und Sterblichkeit zu Begleitern ihres neuen Lebens. Und dennoch, der Geborgenheitsverlust bedeutet einen Gewinn: der Mensch ist nun reif für die Selbstbestimmung.

 

Dieser Mythos lädt dazu ein, Krisenerfahrung in einem anderen Licht zu betrachten. An so zentraler Stelle wie dem Anfang der Genesis platziert, erscheint die Krise nicht als Sonderfall oder Anormalität, sondern als die Urerfahrung des menschlichen Lebens schlechthin! Und ist das nicht ganz berechtigt? Das menschliche Leben stellt uns in jedem neuen Lebensabschnitt vor große Entwicklungsaufgaben. Aber wie sollten wir auf diese gut vorbereitet sein, leben wir doch alle unser Leben zum ersten Mal? Ein Leben ohne Krisen ist nicht denkbar. Während unsere Gesellschaft eher die Botschaft vermittelt, Menschen müssten immer „gut drauf“ sein (was den Druck erhöht, stets reibungslos zu funktionieren), beinhaltet die Einsicht in das Perspektiveneröffnende der Krise viel Tröstendes. Krise bedeutet: Zeit für Neues! Wenn wir unser Leben als etwas Veränderbares begreifen, müssen wir uns vor neuen Erfahrungen nicht fürchten!

 

Literatur:

Grawe, Klaus: Psychologische Therapie. Göttingen: Hogrefe 2000.

Roediger, Eckhard: Praxis der Schematherapie. Stuttgart: Schattauer GmbH 2010.