Psychotherapeutische Praxis  Ralph Dengel
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Entwicklungen in der Verhaltenstherapie

 

Der ganzheitliche psychotherapeutische Ansatz, den ich Ihnen anbieten möchte, ist in mehreren Entwicklungsetappen entstanden. Diesen Weg möchte ich im Folgenden nachzeichnen und dabei erklären, wie die Verhaltenstherapie im Laufe der Zeit ihre theoretischen und methodischen Grundlagen ausgeweitet und verfeinert hat, um schließlich (in den Ansätzen von Grawe und Young) zu einem komplexen und umfassenden Begriff vom Seelenleben des Menschen zu kommen.

 

Die Wurzeln der Verhaltenstherapie liegen in der Lerntheorie, wie sie von Forschern wie Thorndike und Pawlow gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt wurde. Die Verhaltenstherapie betont den Prozess des Lernens, der jedem menschlichem Verhalten zugrundeliegt. Fühlen, Denken und Handeln werden als erlerntes Verhalten betrachtet. In diesem Sinne versteht die klassische Verhaltenstherapie psychische Probleme als Ergebnis ungünstiger Lernprozesse. Diese können durch das Erlernen von neuem, günstigerem Verhalten korrigiert werden. Betrachten wir ein Beispiel: Selbst ein so grundlegender Prozess wie die Wahrnehmung ist nicht etwas Voraussetzungsloses, sondern durch Gewohnheit (also Erlerntes) Geprägtes und kann daher durch Lernen modifiziert werden.

 

 

 

Das Bild oben stellt eine Fotografie von Fußspuren im Sand dar (Roediger 2010). Wie sehen Sie die Füße in dieser Fotografie? Den meisten Betrachtern erscheinen die Füße wie aus dem Sand herausmodelliert, also erhoben. Es handelt sich bei diesem Effekt der Fotografie um eine optische Täuschung. Aufgrund mangelnder Sehgewohnheit bzw. „Lernerfahrung“ (angesichts der ungewöhnlichen Licht-/Schattenverhältnisse) ist das Gehirn „irritiert“ und baut ein Bild erhobener Füße auf. Durch Üben kann das Bild zum „Kippen“ gebracht werden und plötzlich sehen wir es „realistisch“, d.h. die Fußspuren erscheinen eingedrückt im Sand. Das Bild beinhaltet also zwei Betrachtungsmöglichkeiten und gestattet dem Beobachter somit zwei Handlungsmöglichkeiten. Wir können lernen (je öfters wir die Fußspuren hin und her kippen und dadurch das neue Verhalten automatisieren), immer flexibler, bewusster und schneller zwischen zwei Wahrnehmungsperspektiven zu wählen. Aber: Dieses neue Verhalten muss eingeübt werden! Das ist ein grundlegender Gedanke der Verhaltenstherapie und an diesem schweren Kippbild leicht zu veranschaulichen (siehe auch den Text: „Lösungs- und Klärungsorientierung"). Eine weitere wichtige Methode der Verhaltenstherapie ist die Verhaltensanalyse. Sie dient dazu, genau zu erfassen, unter welchen Lebensbedingungen bestimmte Probleme auftreten bzw. ausbleiben, um diese Bedingungen dann so zu verändern, dass neues Verhalten möglich wird, damit die Schwierigkeiten überwunden werden können. Wiederum bezogen auf das Bild: Um die Fußspuren leichter zum Kippen zu bringen, könnte man sich z.B. bewusst machen, dass entlang der Abbruchkante des durch den Fuß eingedrückten Sandes ein Schatten liegt, der das „Tal“ an dieser Stelle verdunkelt (das Licht fällt von links unten flach ein). Dieser Gedanke kann die gewohnte Wahrnehmung „destabilisieren“. Eine andere Veränderung der Betrachtungsweise könnte darin liegen, die Fußspuren vor den Augen verschwimmen zu lassen, den Abstand zum Bild oder den Blickwinkel zu verändern usw. Neben der Verhaltensanalyse sind weitere klassische Methoden der Verhaltenstherapie: das Problemlösungstraining, Bewältigungstraining, Verhaltensexperimente und das Expositionstraining.

 

In den 60er Jahren kam es zur „kognitiven Wende“ in der Verhaltenstherapie. Nun rückte die Art und Weise, wie der Mensch über sich und die Welt denkt, und die wechselseitige Beeinflussung von Denken, Fühlen und Handeln in den Fokus der Aufmerksamkeit. Im Sinne der Erkenntnis des römischen Stoikers Epiktet, dass nicht die Dinge selbst uns beunruhigen, sondern unsere Interpretationen der Dinge, wurden nun einerseits die Bedeutungen analysiert, die Menschen Sachverhalten zuschreiben, und andererseits die Konsequenzen, die diese Bedeutungszuschreibungen auf unser Fühlen und Verhalten haben. Betrachten wir wieder ein Beispiel: In einer Prüfungssituation erhalten drei Studenten dieselbe Note, eine Zwei. Die Reaktionen auf diese Note können völlig unterschiedlich ausfallen! Warum? Jeder der Studenten bewertet die Note unterschiedlich. So mag der erste Student laut jubeln (er hat für die Prüfung wenig getan, denkt aber „vermessen“: „Wiedermal zu viel gelernt!“), der zweite weint (er hat hohe Ansprüche an sich, hat deshalb viel gelernt, eine Eins erwartet und ist nun maßlos enttäuscht und denkt: „Du bist ein Versager!“), der dritte hingegen bleibt gelassen in seinem Gefühlsausdruck (er hat sich um eine Zwei bemüht, entsprechend gelernt und denkt: „Passt doch!“). Klassische Methoden des kognitiven Ansatzes sind die Beobachtung und Analyse von Gedankengängen, Interpretationen, Lebensregeln, Ansprüche, Erwartungen usw. Diese werden daraufhin untersucht, inwiefern sie uns bei dem Erreichen von Zielen und der eigenen Persönlichkeitsentwicklung fördern oder behindern. Ungünstige Denkmuster werden dann in Richtung hilfreicherer Überzeugungen weiterentwickelt und auch unterstützende innere Monologe eingeübt (Selbstverbalisationstraining). 

 

Die nächste Verfeinerung erfuhr die Verhaltenstherapie in den 90er Jahren im Zuge der „emotionalen Wende“. Nachdem in unserer Kultur, die sich aufgeklärt und wissenschaftlich-rationalistisch versteht, Emotionen lang im Rufe standen, dem Verstand unterlegen zu sein (diese abwertende Betrachtung der Gefühle reicht zurück bis zu Platon), erfuhr diese Interpretation nun eine Korrektur. Durch hirnphysiologische Untersuchung konnte gezeigt werden, dass tatsächlich jeder Gedanke, jede Wahrnehmung und jede Erinnerung von (allerdings oft unbewussten) Gefühlen begleitet und gesteuert wird. Tatsächlich lässt sich sagen, dass Denken und Handeln ohne Gefühle gar nicht möglich ist; beides geht Hand in Hand, wobei die Gefühle, wie Kast (2007) schreibt, den „Treibstoff“ unseres Verhaltens darstellen. Auch dies kann an dem obigen Kippbild nachvollzogen werden. Es ist insbesondere auch deshalb so schwer, die andere (unvertraute) Perspektive einzunehmen, weil wir uns doch sicher darin sind, zu sehen, was wir sehen, und unser Informationsverarbeitungssystem sein Wahrnehmungsurteil deshalb nur ungerne revidieren möchte. Mit der emotionalen Wende integrierte die Verhaltenstherapie zentrale Aspekte der Gedankenwelt von Psychoanalyse und Tiefenpsychologie, z.B. die Bedeutung des Unbewussten für das Verhalten. Das menschliche Bewusstsein setzt sich zusammen aus einem unbewussten, emotionalen, ganzheitlichen Informationsverarbeitungssystem (mit dem wir geboren werden und mit dessen Hilfe wir ab der Geburt durch unsere Emotionen und das mit ihnen gekoppelte Verhalten, also Lachen, Weinen, Schreien usw., mit der Welt kommunizieren) und einem bewussten, sprachlichen, rational-analytischen Teilsystem, das sich erst nach der Geburt mit dem Spracherwerb im Gehirn herausbildet. Die Bedeutung des Unbewussten zeigt sich darin, dass immer wieder auftretende Muster emotionaler Erfahrungen, die wir als Erwachsene aktuell erleben, durchaus nicht heute entstanden sein müssen, sondern alte, biografisch entwickelte Erlebensformen darstellen. Da der Mensch die für ihn zentralen Gegenwartsprobleme unbewusst mit den prägenden Erlebnisweisen, Handlungsimpulsen und Lösungsstrategien der Vergangenheit zu meistern versucht, macht die Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Gegenwart hier gar keinen Sinn! Solche frühen prägenden Erfahrungen des Menschen sind insbesondere Bindungserfahrungen.

 

Die integrativen Ansätze von Grawe und Young stiften einen zweiten wesentlichen Punkt der Gemeinsamkeit zwischen den psychodynamischen Therapieverfahren und der modernen Verhaltenstherapie, indem sie von grundlegenden Bedürfnissen (wie dem Wunsch nach Bindung, Autonomie, Selbstwerterhöhung, Kontrolle und Orientierung, Lustgewinn und Unlustvermeidung – siehe auch den Text „Entfalte dich, aber zeige dich nicht!") ausgehen, mit denen der Mensch geboren wird und die er sein Leben lang zu verwirklichen streben. Die individuelle Art und Weise, wie ein Mensch diese Bedürfnisse schützt bzw. befriedigt, hat seine Wurzeln in der Bindungsgeschichte, in der es zwischen den Bedürfnissen des Kindes und denen der Eltern oft Konflikte gibt. Überlebensnotwendig für das Kind in seiner großen Abhängigkeit ist zuallererst die Absicherung des Bindungsbedürfnisses zu den Eltern. Um dieses zu schützen, kann schnell eine Situation entstehen, in der das Kind beispielsweise seine Autonomie- und Lustbedürfnisse opfert, wenn die Eltern ihm für deren Entwicklung wenig Spielraum geben. Das könnte zu der unbewussten Verinnerlichung des Schemas (der Lebensleitlinie) führen: „Um geliebt zu werden, muss man sich unterordnen und eigene Bedürfnisse opfern!" Als Erwachsener wird man mit einer solchen Lebensregel, die früher sinnvoll, ja überlebensnotwendig war, nun aber eine altersgemäße, ausgeglichene Bedürfnisbefriedigung verhindert, längerfristig unglücklich werden und Depressionen können die Folge sein. Die Auseinandersetzung mit der Angst davor, sich in einer Beziehung um eigene Bedürfnisse zu kümmern und diese auch durchzusetzen, kann so notwendig werden. Auch hier zeigt sich, wie die Vergangenheit in der Gegenwart weiterlebt und dadurch im Hier und Jetzt bearbeitet werden kann. Dies führt uns zu dem dritten grundlegenden psychodynamischen Aspekt: der zentralen Bedeutung der therapeutischen Beziehung. In der Interaktion zwischen Patient und Therapeut bilden sich frühe Beziehungsmuster ab und können auf diese Weise bewusst gemacht und bearbeitet werden, wodurch sich die eigene Beziehungsfähigkeit (zu sich selbst und anderen) stärkt und vertieft.

 

Aus den geschilderten Erkenntnissen zum Unbewussten und den Emotionen ergab sich für die Verhaltenstherapie die Notwendigkeit, emotionsaktivierende und –fokussierenden Techniken wie Rollenspiele, Imaginationsarbeit und Stühlearbeit (mit inneren Anteilen wie Kind- und Elternmodi) aus der Gestalttherapie und dem Psychodrama zu integrieren. Denn nur wenn die unserem Handeln, Denken und Wahrnehmen zugrundeliegenden emotionalen Prozesse aufgedeckt, verstanden und bearbeitet werden und neues Verhalten trainiert und mit positiven Emotionen gekoppelt und verankert wird, sind nachhaltige Veränderungen möglich und das Ziel einer ausgeglichen Bedürfnisbefriedigung zu verwirklichen. Die Verhaltenstherapie hat sich durch ihre kontinuierliche Erweiterung zu einem Therapieverfahren mit sehr guten Wirksamkeitsnachweisen bei vielen Störungen entwickelt.

 

Literatur:

Grawe, Klaus: Psychologische Therapie. Göttingen: Hogrefe 2000.

Kast, Bast: Wie der Bauch dem Kopf beim Denken hilft. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag. 2007

Roediger, Eckhard: Praxis der Schematherapie. Stuttgart: Schattauer GmbH 2010.